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Markus Hiereth Radio Okerwelle, Braunschweig
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kultur/0912gg
12.2009

GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT
Tanztheater von Eva-Maria Lerchenberg-Thöny nach Jean-Paul Sartre

Anmoderation

Was muss ich tun, damit ich von der "Qualen der Hölle" verschont bleibe? Entsprechende Anweisungen erteilte eineinhalb Jahrtausende lang die Kirche, allerdings: Immer weniger hören hin. Anteil an dieser Entwicklung hat die Philosophie, die Weltbilder ohne Gott und Götter offeriert. Auch Jean-Paul Sartre als wohl bekanntester französischer Philosoph des 20. Jahrhunderts war in dieser Disziplin tätig. Dessenungeachtet bestimmte er den Ort der Hölle. Wo? Die Antwort packte er in sein Stück "Geschlossene Gesellschaft" das derzeit am Staatstheater Braunschweig gegeben wird ...

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.. und insofern Neugierde weckt, als es sich dabei um eine Produktion des Tanztheaters handelt, was die Frage aufwirft, wie Sartres Analyse zu individuellem Handeln und dem Übel in der Gemeinschaft, verpackt in ein komplett auf den Dialog setzendes Drama, ohne Worte erzählt werden soll.

Ein stummer und dadurch geradezu beklemmender Ort ist die Bühne - ein schwarzer Kasten mit drei schicken Stühlen als einzige Requisiten. Scheinwerfer setzen sie in halbhelles Licht. In die Rückwand eingelassen ist eine von einer schimmernden Metallzarge gerahmte, grüne Tür. Ihre beiden Flügel öffnen und schließen sich völlig geräuschlos.

Die Figuren trudeln einzeln ein, zuerst Garcin. Er wie die beiden noch kommenden Tänzerinnen zerstreuen vom ersten Moment an Zweifel, das fehlende Wort könnte dem Erzählen hinderlich sein. Plastisch vermitteln Blicke, die Haltung, minimale Aktionen die verschiedenen Fragen, die sich Garcin kurz nach Betreten des Raumes stellt: Wo bin ich hingekommen? Was soll ich hier? Beobachtet mich jemand? Kann ich wieder gehen? Soll ich mich auf etwas vorbereiten, beispielsweise, dass noch wer kommt? Also plaziert er in schicklicher Ausrichtung und nicht zu engem Abstand neben dem eigenen einen zweiten Stuhl vom Stapel. Bald darauf öffnet sich in der Tat die Tür erneut, Ines tritt ein. Doch Sekundenbruchteile reichen ihr, um zu demonstrieren, dass sie, abgesehen von der Anwesenheit im selben Raum, sich durch nichts mit Garcin verbunden fühlt. Erst Estelles Ankunft lässt daran denken, dass Beziehungen ein Teil des Menschseins sind und das Blatt wendet sich. Denn dieser Engel mit seinem langen, dunklen Haar dürstet offenbar nach Aufmerksamkeit, danach zu gefallen und in ein Geben und Nehmen einzutreten, dessen Bilanz für sie selbst von Vorteil ist, immer im "grünen Bereich" liegt.

Zwischen den drei Akteuren kommt in jeder Paarkonstellationen Spannung zum Ausdruck, das Ziehen und Schrammen einer Geige beim Tango tut das ihrige dazu. Selbst im Walzer verraten der Zug auf Armen und Hüften, ein eher stolpriges als fließendes Schreiten ein Brodeln von Dominanz und Renitenz unter der Haut des tanzenden Paars. Das Publikum registriert ein Ringen in ständig wechselnder Besetzung mit immer wieder anderen Mitteln: Einmal nur die kühle Analyse fremder Schwäche, dann ein roter Mund als Falle, später auch plump Kraft und männliche Virilität.

Was Sartre mit seinem Stück vorgedacht hat, nämlich dass es eine strafende Instanz im Jenseits nicht braucht, sondern schon hier einer dem anderen zur Verdammnis verhelfen kann, weil Verlangen nach Macht und Unterordnung, weil das Richten und Gerichtet-Werden in einen Strudel des Quälens münden, ist verstanden, als auf der Bühne etwas Unerwartetes geschieht: Die Darstellung dieser neuen Situation gerät durch ihre sublime Widersprüchlichkeit zum Höhepunkt dieser Produktion. Unvermittelt erreicht Garcin, Ines und Estelle die Erinnerung oder die Vorstellung eines Raumes außerhalb ihrer vier Wände. Sie verspüren Neugierde und ein Sehnen, doch alle drei wirken nun zaghaft und verschlissen, ihre Beine tragen sie rückwärts statt nach vorn.

Ich wünschte, Eva-Maria Lerchenberg-Thöny hätte genau an dieser Stelle, aufgehört, das Stück getreu der Vorlage zu inszenieren, da bereits sicher ist, dass sich auf der Bühne nichts mehr ändern wird, dem Zuschauer aber zugleich Autonomie, Freiheit, einfaches Weggehen als Lösung vorschweben muss. Leicht einzubinden wären die Schließerinnen, welche, während sich die beiden Flügel der grünen Türe in der rückwärtigen Bühnenwand wieder lautlos aufeinander zubewegen, sechs andere Türen öffnen, so dass grelles Licht die Galerien des ersten und den zweiten Ranges erreicht und den Zuschauern im Parkett von hinten über die Schultern streift.

Abmoderation

Mit "Geschlossene Gesellschaft" in einer Adaption des Tanztheaters am Staatstheater Braunschweig hat sich Markus Hiereth befasst. Die nächsten Aufführungstermine sind Freitag der 11. und Freitag der 18. Dezember, wobei es im Anschluss an diese Vorstellung ein Publikumsgespräch geben wird.