Die Abt-Jerusalem-Straße im Braunschweiger Universitätsviertel hält seinen Namen präsent, doch sicherlich braucht es einen Anlass, sich mit dem Leben und Wirken des Namensgebers Friedrich Wilhelm Jerusalem zu beschäftigen. Eine wissenschaftliche Arbeit stieß Bärbel Moré an, sich als Künstlerin mit diesem Lehrer und Theologen zu befassen. Es entstand eine Ausstellung im Haus der Diakonie - neben der Riddagshausener Klosterkirche und somit in unmittelbarer Nähe von Jerusalems Begräbnisstätte. Auch der Eröffnungstermin 2.9. war bewusst gesetzt: Denn an einem 2. September starb Abt Jerusalem und im Jahr 1709 kam er zur Welt, sein Geburtstag wird sich also zum dreihundertsten Mal jähren. Markus Hiereth hat die Objekte, Bilder und Installationen in der Galerie Riddagshausen gesehen und die Wolfenbütteler Künstlerin Bärbel Moré gesprochen ...
... und sie beispielsweise gefragt, ob eine positive Einstellung zu der in den Mittelpunkt gestellten Persönlichkeit für das Vorhaben nötig gewesen sei.
Ich arbeite meistens mit Orten oder mit Themen und hier war der Jerusalem das, was ich als Ausgangspunkt hatte und dann habe ich praktisch begonnen, mich mit Jerusalem zu beschäftigen. Und habe natürlich Dinge gefunden, die mir imponiert haben aber auch Dinge, die ich gar nicht so wahnsinnig fand.
Viele Verweise jedenfalls beinhaltet eine wandfüllende Werkgruppe gleich rechts vom Eingang. Zeichnungen, Reproduktionen, akribisch geklebte Kartonage-Stückchen bilden ein Mosaik. In einem Feld gibt es Streifen von Fotografien. Der Betrachter registriert Fesseln und Hufe von Pferden in Bewegung. Bärbel Moré zu ihren Überlegungen bei diesem und weiteren Elementen.
Die habe ich als Zitat für seine Reisen, vor seiner Stellung am Hofe Carls I. genommen. Oder hier eine Anzeige seiner Vorlesungen und Übungen am Collegio Carolino. Das habe ich zu technischen Zeichnungen in Beziehung gesetzt. Oder hier ist es das Armenhaus, wie es damals ausgesehen hat.
Mit diesem Haus dürfte auf ein dreihundert Jahre nach Friedrich Wilhelm Jerusalem unverändert aktuelles Problem verwiesen sein. Für Abt Jerusalem bedingten sich Hilfe für die Armen und Religion gegenseitig. Seine Ansichten zum Sozialen sind nachzulesen, die Schriften wollen nur aus Archiven geholt und geöffnet sein.
Ich habe im Lesesaal der Bibliothek gesessen, denn seine nachgelassenen Schriften sind nicht auszuleihen, und habe mir bestimmte Kernsätze, die mich angesprochen haben, aufgeschrieben und habe zum Beispiel Zelte bedruckt [...] und da ist vielleicht auch die Verbindung seines Denkens. So wie er die Religiosität aufgefasst hat, sollte die weniger zu tun haben mit diesen theologischen Sätzen, sondern eher mit dem gesunden Menschenverstand und mit der praktischen Hilfe, die man im sozialen Bereich leistet.
In seiner Begrüßung bot Lothar Stempin vom Diakonischen Werk eine einleuchtende Verbindung zwischen Jerusalems Gedanken zum Sozialwesen und einer der von Bärbel Moré gewählten Formen an: Das Zelt als einfachste Behausung stehe für Geborgenheit, ein Minimum an Schutz für menschliches Leben. Im Grün hinter dem Haus steht nicht nur eines. Die Wiederholung bedeutet ein Mehr an manueller Arbeit, doch Bärbel Moré stimuliert dieses Mehr auf anderer Ebene ...
Es gibt Reihungen, es gibt Wiederholungen, da steckt in dieser Arbeitsweise eine Meditation, weil es ist eben mit der Hand gemacht und dauert, dauert, dauert ganz lange.
Zeit verlangen die Objekte zweifelsohne auch, da Bärbel Moré gerne nach Material greift, welches nicht zur Kunstproduktion vorgesehen ist. So etwa lange Holzspäne, Papphülsen von Feuerwerkskörpern, Zeitungspapier, Eisenringe.
Ich bin immer irgendwie wach und gucke, wo ich etwas finde. Ich kann das nicht im Moment erklären, aber ich nehme manchmal Material und bringe das in meine Werkstatt und weiß im Moment noch nicht, wofür ich das benutze. Aber wenn ich mich dann mit einem Thema beschäftige, dann entwickeln sich Gedanken, Verbindungen assoziativ. Die Arbeit und das Gedankengebäude zugleich.
Bärbel Morés Werke verlangen eigentlich, dieses Tun fortzusetzen und so passiert es, dass ein im Jahr 2002, also lange vor dem Abt-Jerusalem-Jubiläum gefertigtes Gewand wirkt, als illustriere es das Auftreten dieses Geistlichen, zu dessen ersten Themen die Zuwendung zum Nächsten gehörte. Dieses Gewand erinnert an einen Talar und besteht aus Nepalpapier. Pralineförmchen, mit sich fast berührenden Rosettenrändern, bilden Ringe und bedecken das Objekt, wobei in jenen Förmchen auf Brusthöhe ein Stück Würfelzucker sitzt. Sie könnten mithin für die Liebe stehen. Aber wie erwähnt: Das Objekt entstand wohl nicht in Gedanken an Friedrich Wilhelm Jerusalem, alle Gäste der Vernissage sind mit Kalorien versorgt und auch Bärbel Moré betrachtet die Zuckerwürfel zuerst nicht als Energieschub für Körper und Seele.
Zucker bedeutet für mich Fülle, Süße, es ist etwas Überflüssiges. Zucker ist noch dieses Stückchen, was man oben drauf tut. Und die Pralineförmchen natürlich auch. Da steckt für mich Geborgenheit, Fülle, Süße drin. Also das, was vom Menschen ausgehen kann, wenn man für jemand anderen einsteht.
Die Ausstellung "Zeitfenster" im Haus der Diakonie neben der Klosterkiche Riddagshausen läuft bis zum 30. Oktober und ist montags bis donnerstags von 9 bis 16 Uhr, freitags von 9 bis 13 Uhr und sonntags von 12 bis 16 Uhr geöffnet.