Ernst von Haeckel studierte die Natur mit dem Wunsch, die ihr innewohnenden Zusammenhänge richtig zu erfassen. Dessenungeachtet hielt er die von ihm empfundene Begeisterung über die äußeren Formen des Lebens nicht zurück und bezeichnete etwa die skelettierten Funde von Kleinstlebewesen, der "Strahlentierchen" oder "Radiolarien", welche er im Meer vor Messina sowie während seiner Forschungsreise auf der H.M.S. Challenger zusammentrug, als "märchenhafte" Schätze. Kunst ist ihm, was die Sinne anspricht; er erlebt sie in Werken des Menschen und in der Natur:
Den Unterschied von "Kunstwerken des Menschen" und "Kunstformen der Natur" sieht er darin, dass "die ersteren mit mehr oder weniger klarem Bewußtsein, zielstrebig von Gehirn und Menschenhand", die letzteren "unbewußt, ohne vorgefasste innere Absicht" erschaffen werden. Die Frage, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck selbst einzellige Lebenwesen wie die Radiolarien höchst ästhetische Strukturen zustande bringen, führt ihn zur Annahme eines "Kunsttriebes" oder "plastischen Zellinstinktes", der auf "derselben Stufe der Seelentätigkeit wie die bekannten Instinkte der höheren vielzelligen Tiere und Pflanzen stehe." Gleich diesen Instinkten hält Haeckel1 diesen Kunsttrieb für eine erbliche, von Generation zu Generation weitergegebene Anpassungsleistung.
Der Verleger Wilhelm Breitenbach erinnert in seiner Kurzbiografie2 an Haeckels bedingungsloses Engagement zur Verbreitung der Evolutionstheorie. Charles Darwins Werk "Über die Entstehung der Arten" war 1862, während Ernst von Haeckels Aufenthalt in Italien, erschienen. Haeckel lernte das Buch nach seiner Rückkehr in Berlin gleich kennen.
Ernst von Haeckel hat seinen Zuhörern dieses Gesetz zum Beispiel in einem Vortrag "Über die Arbeitstheilung in Natur- und Menschenleben" vor dem Berliner Handwerker-Verein nahegebracht. Die diesbezügliche Passage3 des Vortrages hier in gekürzter Form:
Der Biologe Konrad Bachmann4 findet diesen Begriff des biogenetischen Gesetzen "pompös" und meint, dass es in der Entwicklung eine mehrzelligen Organismus schlicht einfacher sei, eine gebildete Struktur nachträglich abzubauen als einen Teil eines von mehreren Faktoren bewerkstelligten Prozesses gezielt zu überspringen. Doch die von Bachmann erwähnte Bildung von Kiemenspalten und -bögen während der Embryonalentwicklung des Menschen illustriert eher die grundsätzliche Richtigkeit der Vorstellung Haeckels als eine Schwachstelle darin.
Nicht selten wurde und wird Evolutionstheorie mit "dem Kampf ums Dasein" oder einem Recht des Stärkeren assoziiert. Doch für Ernst von Haeckel kennzeichnen Arbeitsteilung und Anpassung die erfolgreichen, hochstehenden Arten und Gesellschaften. Als bekanntes Beispiel führt er staatenbildende Insekten an. So entwickelt sich der Nachwuchs der Bienen sicher und unter guten Bedingungen, weil sich die Leistungen spezialisierter Individuen – hier Ammen-, Bau-, Wächter- und Sammelbienen5 – zusammenfügen: Die Brut profitiert vom kontrollierten Klima im Stock, der zuverlässigen Versorgung mit Nahrung und dem Schutz vor Räubern. Ebenfalls kein Einzeltier, sondern eine ganze Kolonie von Individuen stellt die Staatsqualle dar. Haeckel war von dieser Meeresbewohnerin fasziniert und hat sie oft gezeichnet. Welche Aufgaben von welcher Gruppe von Individuen erfüllt werden, stellte Haeckel ausführlich in dem oben genannten Vortrag dar.
Dass ein Ganzes mehr als die Summe der Teile darstellt, wird ihm zur Weltanschauung. In der "monistischen" Bewegung6 des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Haeckel eine führende Figur. In einer Fußnote von "Die Natur als Künstlerin" stellt er den Monisimus den etablierteren religiös-weltanschaulichen Haltungen gegenüber7.
Im Internet hat Angelika Weiß-Merklein eine ausführliche Darstellung8 von Leben und Werk Haeckels hinterlegt. Die zitierten Textpassagen und die Illustrationen sind Buchexemplaren der Universitätsbibliothek Braunschweig entnommen.