Sendungseröffnung
Im Jahr 1995 entdeckten Archäologen im Braunkohletagebau von Schöningen tausende von Wildpferdknochen und acht Holzspeere. Vier von ihnen präsentiert das Braunschweiger Landesmuseum zur Zeit als Zeugnisse von "Mensch und Jagd vor 400000 Jahren". Hartmut Thieme, der Leiter der Schöninger Grabungen, vertritt die Auffassung: Wo solche Dinge ans Tageslicht kommen, da stößt man eines Tages auch auf Überreste des Akteurs. In der Tat können die Ausstellungsmacher mit Knochen von Vorläufern des modernen Menschen aufwarten, doch stammen diese Funde nicht aus Schöningen im Osten, sondern aus dem Tal der Leine im Westen, einer Kiesgrube nahe Sarstedt. Die derzeitigen Kenntnisse bezüglich dieser Funde und urzeitlicher Menschen wollen wir in der Pandoora spezial Ausgabe heute vermitteln. Bauen können wir dabei auf Gesprächspartner, die sich tief in die Menschheitsgeschichte hineingegraben haben, und zwar die beiden Finder der Ausstellungsstücke sowie den Paläoanthropologen, der diese eingehend untersuchte. Seine Schlüsse sind mittlerweile für die Fachwelt vorbereitet und eine lebhafte Debatte darüber ist zu erwarten. In knapp einer Stunde werden sie hierüber im Bilde sein. Am Mikrofon begrüßt sie Markus Hiereth. Als erstes Musikstück herausgesucht habe ich "I zimbra" von den Talking Heads, denn da höre ich beide hüpfen: Die Elektronen im Mikroprozessor und unsere Vorfahren rund um's Feuer.
[...] Wöchentlich drei bis fünf Angebote bilden das Begleitprogramm der Ausstellung "Die Schöninger Speere Mensch und Jagd vor 400000 Jahren" im Braunschweigischen Landesmuseum. "Die Bedeutung der Hominidenreste von Sarstedt für die Entstehungsgeschichte des Menschen" lautete der Titel des Vortrages am vergangenen Mittwoch. Es referierte Alfred Czarnetzki von der Universität Tübingen. Das Gespräch mit ihm lässt verstehen, weswegen die Sarstedter Urmenschenknochen auf seinem Schreibtisch landeten [...]
Sendungsausschnitt 1
[ac0446] Uralte Funde sind halt selten. In Deutschland haben wir gerade mal Mauer im Süden als einen der ältesten. Dann Bilzingsleben, Salzgitter-Lebenstedt, Steinheim in Württemberg. Und jetzt diese Sarstedter, Ehringsdorf kommt natürlich auch dazu. Also man kann sie fast an zehn Fingern abzählen, was wir in Deutschland haben. [ac0526] Solche Schichten in denen die gefunden werden können, werden ganz selten angebohrt. [ac0539] Bei dem modernen Abbau der Kiese und Sande, in denen die ja meistens liegen, wird meistens alles zerstört. Das ist ganz selten, dass solche Funde herauskommen, mir ist es einmal noch geglückt, dass ich einen Fund aus den Kiesen des Rheintals wiederentdecken konnte, der lag 20 Jahre im Museum. Den hat man auch vom Förderband heruntergeholt, weil man sah, da liegt ein menschlicher Schädel drauf und hat ihn mitgenommen und der entpuppte sich dann auch als ein später Erectus. [ac0607] Das ist eben ganz selten, weil diese Schichten nicht da sind und wir haben gar nicht das Geld dazu, solche Schichten auszugraben. Denken sie an die riesigen Kosten, die das bedeutet, hier in Schöningen die Reste, die noch da sind, zu sichern. Und so muss man halt wohl oder übel die Kiesgruben abgehen und da findet man immer wieder was.
In breiten Fotopanoramen vermittelt die Landesausstellung einen Eindruck vom Fundort der Schöninger Speere. Die zweitwichtigsten Stücke, eben die urmenschlichen Knochen, umgibt ein nüchternes, ja klinisches Umfeld. Ein Video gibt zu verstehen, wie diese sich in einen Schädel einpassen lassen. Wo die Stücke ans Tageslicht kamen, legen Karl-Werner und Ortrud Frangenberg dar. [...]
Sendungsausschnitt 2
[mh0430] Nach was schauen Sie eigentlich? Ich stelle mir einen Kiesberg vor. Worauf reagiert ihr Auge? [of0437] Auf Knochen. Bin auch auf Artefakte focussiert, muss ich sagen. Die Feuersteine, die springen mir sofort ins Auge. Man geht systematisch den Berg ab mit dem Auge und da bleibt man an den Dingen hängen und da geht man hin und guckt, was man da gesehen hat aus der Entfernung. [mh0059] Da wird ja jeden Tag gearbeitet. Heißt das, dass man sich denkt, wenn man zuhause ist, das ist vielleicht der Moment, wo ich draußen sein müsste? [of0119] Ja, da ist eine Menge dran. Im Grunde hat man gewisses Fieber, man möchte eigentlich jeden Tag hin, aber man hat die Zeit nicht. Wir machen es, wenn wir es schaffen, ein bis zweimal die Woche und die restlichen Tage verpassen wir natürlich und da ist garantiert was zutage gekommen, was wir nicht finden konnten. [of0152] Und auch an den Wochenenden, morgens sind schon vor uns Sammler da, die auch schon was gefunden haben und wir finden trotzdem noch was. Also das ist schon sehr sehr ergiebig. [kf0202] Der Boden dort ist sehr alt und es kommt auch Bernstein. Da sind natürlich die Bernsteinsammler da. Da krabbelt es rum, da fehlt die Würstchenbude noch, die könnte da auch aufgestellt sein. [mh0218] Wie hat Sie diese Leidenschaft erreicht? [of0235] Ursprünglich hat es unser Sohn angefangen, weil der Fossilien sammeln wollte als er zehn Jahre alt war und wir sind mit ihm losgezogen. Haben Versteinerungen gesammelt. So hat sich das bei uns immer weiterentwickelt. Haben uns anhand von Büchern weitergebildet und haben uns erst auf Artefakte konzentriert und haben sehr viele Werkzeuge gefunden und dann wurde uns von Dr. Thieme gesagt, wo viele Werkzeuge sind, müssen auch Menschen irgendwann kommen. Dann haben wir nach Menschenknochen gesucht, bewusst und haben irgendwann diese Funde gemacht.
Als Forscher erlebte Alfred Czarnetzki die Besitzrechte an den Objekten oftmals als Hemmnis, wobei ihn die Situation und die Möglichkeiten bei Stücken in öffentlichem Eigentum auch nicht zufrieden stellen. Da freut ihn, dass er mit dem Ehepaar Frangenberg an einem Strang ziehen kann. [...]
Sendungsausschnitt 3
[mh1134] Welche Spuren weist denn dieser Knochen auf, welche Aspekte untersuchen Sie? [ac1147] Einmal die reine Morphologie. Die wird ja geprägt von Genen. Diese Gene können mutieren und dann was anderes hervorbringen und mit der Morphologie erfassen wir eine große Anzahl von Genen, die dem Schädel die Form gegeben haben. Dadurch kann ich herausfinden, in welche Menschenformen die am frühesten gehören. Wir haben eine gewisse Entwicklung innerhalb der Geschichte des Menschen. Der Schädel wird immer größer, es ändern sich auch gewisse Strukturen und wir wissen andererseits, wie die Vorgänger ausgesehen haben. Aus Funden, die stratigrafisch gut gesichert sind. So kann man die vergleichen und dadurch herausfinden, welchen Funden die am ähnlichsten sind und damit auch die genetische Information miterfassen. [mh1239] Das ist jetzt die Form, die man mit dem Auge erfasst, aber man geht noch genauer. Man untersucht die Oberfläche beispielsweise. [ac1517] Ja, im Schädelinneren selber drücken sich die Gehirnwindungen ab, dadurch, dass das Gehirn pulsiert durch unseren Herzschlag bilden sich die Gehirnwindungen mehr oder weniger deutlich ab. Man muss sehr sehr genau hinschauen um die einzelnen Windungen zu erkennen, und dann kann man auch entscheiden: Wie groß war dieser Teil oder jener. Der Frontteil, das Stirnhirn, das eine relativ große Rolle spielt, weil da die Charaktereigenschaften etwa lokalisiert sind. Dann das Scheitelhirn, wo unsere sensorischen, motorischen Eigenschaften sind, wo die verschiedenen Sprachzentren sitzen, die uns motorisch sprechen lassen. Die anderen, die uns das Gesprochene erkennen lassen. Das kann man dann aufgrund der Hirnwindungen, die man abgedrückt findet, herausfinden und sehen: "Wie weit war das Gehirn jetzt entwickelt?" [ac1613] Das ist zum Beispiel bei diesen Sarstedtern so, dass da offensichtlich die Seitenpartien noch nicht so gut entwickelt waren. Also sprechen konnte er womöglich, aber nicht so gut artikulieren. Hören konnte er recht gut, aber nicht so hundertprozentig wie der Neandertaler. Bei dem war das überentwickelt.