Man mag darüber rätseln, was Melancholie und Kunst miteinander verbandelt: Einerseits schnürt Melancholie den kreativen Menschen von der Umwelt ab, andererseits fördert Abschlossenheit die kritische Auseinandersetzungen mit dem eigenen Schaffen. Im "Schatten zu gehen" könnte die Beschäftigung melancholischer Menschen sein; "Schattengänger" verbindet als Titel zwei Choreografien, deren Premiere das Ballett des Staatstheaters am letzten Samstag feierte. Die Aufführung hat Markus Hiereth für Pandoora besucht.
Schattengänger komponieren, formulieren und arrangieren. Sie fassen Gedanken in Verse, die wiederum Begleitung erhielten durch Töne zum Lied. Robert Schumann der Komponist, Joseph von Eichendorff der Dichter und Ingeborg Bachmann die Schriftstellerin zogen Inspiration aus den Schatten; einen Abend mit kontrastierenden Choreografien machten Henning Paar und Marco Goecke[1] daraus.
Henning Paar nahm den Liederkreis op 39 Schumanns in Arbeit: Begleitet von Kyun-Sook Choi am Klavier trägt Henryk Böhm "In der Fremde", "Wenn ich in Deine Augen seh" oder "Frühlingsnacht" vor. Annäherungen und Abweisungen zwischen dem Sänger und den vier Tänzern gehen mit den Liedzeilen einher. Ihnen zufolge sind Freundschaft und Liebe bloß Funken im Leben des Menschen, Melancholie und Einsamkeit die verläßlicheren Begleiter. Eben durch den Tanz kommt Fleisch an die den Ohren zugedachte Kunst: Im Reim "Das ist ein Flöten und Geigen" verketten sich Hände, Hälse, Rümpfe und Beine zu einem eigenwilligen Reigen. Henning Paar hielt die Balance. Das scheinbar einfaches Leben der Menge nimmt er nicht als Postament zur Überhöhung romantischer Verlorenheit. Im behutsamen Griff an die Schulter springt die Besinnung bisweilen von einem zum anderen Akteur. Man nimmt sich durchaus wechselseitig wahr, was auch einmal einen willkommenen heiteren Augenblick beschert. Etwa, wenn sich David Williams vor Andrea Svobodova wohlig auf einer Tischplatte streckt und er mit fünf Zehen des bloßen Fußes neckisch seine Verachtung für Überhebung und Gegrübel kundtut. Rory Stead wiederum vermittelt am Boden, zwei Tischbeine umklammernd, menschliche Verzweiflung. Der folgende Pas de deux setzt die weiteren Liedzeilen über Freundschaft und Verrat um.
Was Henning Paar im ersten Teil des Tanzabends unter dem Titel "Ich will meine Seele tauchen" nicht ankratzt, sondern stehen läßt - eben eine Vorstellung wie die der Seele als Brücke zwischen umfassendem Gott oder ewiger Natur und dem zeitlichem Ich - stellt im zweiten Teil des Abends der Text "Alles" von Ingeborg Bachmann in Frage. Den Platz von Liebe und Glauben nimmt Entfremdung in Beschlag. Über wechselnde Lautsprecher im Theater eingespielt wird eine Lesung der Autorin; samt Nebengeräuschen des damaligen Publikums und allen kleinen Unzulänglichkeiten des Vortrages. In der Mitte der von schwarzen Wänden begrenzten Bühne türmen sich Dutzende grauer Matten und nehmen so die Form eines breiten Bettes an. Streckenweise ohne Punkt und Komma erzählt wird von einer zur juristischen Gegebenheit erodierenden Partnerschaft, vor allem jedoch von einer Vater-Sohn-Beziehung, die ihren Lauf vom hier angedeuteten Nacht-Lager aus genommen haben könnte.
Schief stützt sich ein Tänzer an den Matten ab und nähert seinen nackten Oberkörper Zentimeter um Zentimeter dem filzigem Inventar. Starre prägt den Beginn von Marco Goeckes Choreografie, erst züngeln Gliedmaßen seitlich um die Ecken des Betts, dann ist der Wurf komplett. Ingeborg Bachmanns rekurriert derweil auf eine quasibiblische Genealogie, reiht aneinander, durch wen Abraham gezeugt und wen dieser wiederum gezeugt. Der Hoffnung auf Ausbruch und Veränderung mit und durch das neue Leben hängt der Ich-Erzähler für einen Moment an. Aber bezeichnenderweise mangelt es schon den Eltern grob an Innovation: Die Namen auf dem Taufschein gabe es bei den Ahnen alle bereits. Ein zementschweres Erbe mag dem "Fips" gerufenen Sproß zugedacht sein, dieser wirkt vorerst teigig, zappelig und unwissend. Die Jahre des von seiner Frau Hanna und seinem Sohn erzählenden Vaters nehmen ihren Lauf. Am Ende vertritt Fips ein Ball. Er kullert von Fuß zu Fuß und mehr soll über seine Beschaffenheit nicht gesagt werden, um nicht vorwegzunehmen, worauf Ingeborg Bachmanns Geschichte zuläuft.
Marco Goecke vermittelt nicht nur, er umspielt den spröden Text. Die fluxen Bewegungen der Akteure, skurrile Details und eine triebhafte Rastlosigkeit bilden einen Gegenpol zu dessen Verkopftheit und Skeptizismus. Die spartanische Bühne Heiko Mönnichs wird über zwei Seiten und einen toten Winkel erreicht, hartes Licht von oben modelliert die Muskeln von Tänzerinnen und Tänzern. Marco Goecke holt die Suggestionskraft hervor, die ihn ihnen steckt: Scheinbar ohne Kopf läßt er sie gehen oder die Finger irritierend wie Nesseln eines Korallentieres züngeln läßt.
Ich rechne "Schattengänger" zu der innovativsten und gelungensten Tanzabenden, die in den letzten Jahren im Kleinen Haus des Braunschweiger Staatstheaters vor das Publikum kamen.
Weitere Aufführungen sind für Mittwoch den 17. Mai und für den Monat Juni angesetzt.
Anmerkungen und Verweise