Radio Okerwelle
Markus Hiereth Radio Okerwelle, Braunschweig
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kultur/0809ge2
09.2008

BENEFIZKONZERT DES STAATSORCHESTERS AM 9. NOVEMBER

Anmoderation

Der November naht; kein Monat, den man sich herbeisehnt, sondern einer, der nach dem Weiterleben und nach Lebensbedingungungen fragen lässt. Als wäre das noch nicht genug, ist mit dem 9. November zudem ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte verbunden.

In der Nacht vom 9. November auf den 10. November 1938 begann im Dritten Reich eine Welle von Pogromen gegen jüdischstämmige Mitbürger. Es gab Tote, mehrere Zehntausend wurden verhaftet und in Konzentrationslager verbracht. Synagogen wurden in Brand gesetzt, auch die Braunschweiger Synagoge wurde zerstört.

Mit dem Bau einer neuen Synagoge hat man 2006 begonnen und nutzt sie mittlerweile. Doch finanziell ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen, wie Jürgen Justus Becker für die Gemeinde darlegt.

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Beitrag

Sie wissen ja, wie es ist, wenn man ein Haus baut. Man zieht irgendwann ein und bezahlt ist es noch lange nicht. Und es hat sich im Laufe der Baumaßnahmen gezeigt, dass viele viele Probleme an die Seite geräumt werden mussten; mit Heizung und Technik. Das hat dazu geführt, dass die ursprüngliche Bausumme nicht ausgereicht hat und ich bin unheimlich froh [darüber, dass hier das Staatsorchester das Finale bestreitet und wir sind froh] über alle Braunschweiger und lieben Menschen in der Region, die diese ganze Aktion unterstützen, auch in Zukunft.

JB

Am 9. November 2008 nun, dem Tag, am dem sich die Exzesse zum siebzigsten Mal jähren, verknüpfen das Staatstheater und die Stadt Braunschweig das aktuelle finanzielle Anliegen mit dem Gedenken. Einen entsprechenden Vorschlag hatte Jürgen Becker Orchesterdirektor Martin Weller schon 2005, noch vor Baubeginn unterbreitet, doch ...

Für uns war wichtig, dass dieses Benefizkonzert auf den eigentlichen Anlass aufmerksam macht, und zwar deutlich über die Anzahl der Menschen hinaus, die in ein solches Konzert gehen

MW

Aus solchen Überlegungen resultiert nun neben dem 9. November als Termin auch ein Ort, dem bestenfalls nachzusagen ist, er werde für eine ungewöhnliche Atmosphäre sorgen. Dass man nämlich generell ein Konzert in der Stahl-, Stein- und Asphaltröhre der Eisenbahnunterführung der Helmstedter Straße als eine Zumutung für Zuhörer und Musiker erachtete, weiß Martin Weller.

Ich würde sagen, dass die allermeisten, die sich unter diese Brücke begeben, in so einem Frühherbstwetter, da merkt man eben, dass der Ort sehr unwirtlich ist, und dass die Atmosphäre unmittelbar deutlich macht, warum das für dieses Konzert der richtige Ort ist.

MW

Naheliegend, wenn auch schrill, wäre, die Musiker spielten an diesem vom Verkehr geprägten Ort stehend und in dicken Mänteln. Doch das Staatsorchester wird keine Kapelle mimen und für die ordentlich erworbene Eintrittskarte wird mehr als "ambulante Kunst" offeriert. Bauplanen an beiden Enden werden das Publikum vor Zugluft schützen, der Tunnel selbst wird bestuhlt und für das Orchester ein Podium installiert. Was für Autofahrer bedeutet, dass die Helmstedter Straße an dieser Stelle für zwei Tage nicht zu passieren ist. Eben darauf hob Martin Weller mit seinen Ausführungen zur Wahrnehmung der Veranstaltung ab. Gezwungenermaßen über sie nachdenken wird sogar, wer an jenem Wochenende des 8. und 9. November die Linie 2 in Richtung Hauptfriedhof benutzen will. Die drei Stationen hinter der Unterführung werden nicht bedient. Eine Rücksichtslosigkeit gegenüber Alten könnte man darin sehen, Martin Weller aber verbindet diese Nebenwirkung des Konzerts mit einer vergessenen Facette des öffentlichen Leben unter dem Hakenkreuz:

Dass die Straßenbahn dort für zwei Tage nicht fährt, das finde ich wesentlich, weil das letzte Verbot, öffentliche Einrichtungen zu benutzen also die Straßenbahn betraf. Anfang der 40er Jahre war dann das Ende der Repressalienschraube erreicht, in dem wirklich gar kein Verkehrsmittel mehr benutzt werden durfte.

MW

Zugleich bedienten sich bekanntlich die Nazis der großen Eisenbahn als Instrument der Deportation. Das gäbe Grund, dem Klopfen stählerner Räder über Schienenstöße eine bittere und unerbittliche Note zuzuschreiben. In ihrer Aufführung wollen Generalmusikdirektor Alexander Joel und seine Musiker den Geräuschen der Eisenbahn Rechnung tragen.

Also ich glaub, was sehr berührend sein wird, ist, dass diese Musik immer wieder vom Geräusch von Zügen unterbrochen wird. Das ist sozusagen eine Art Brechung, und das finde ich sehr spannend.

AJ

Die Partituren, zwischen welche sich der Schienenverkehr zwängt, stammen aus der Feder dreier jüdischer Komponisten. Einer, ist durch sein Werk weltbekannt und litt, obwohl noch Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie lebend, unter antisemitischen Anfeindungen.

Ich glaube, jeder kennt Gustav Mahler. Wir spielen sein allerletztes Stück, die zehnte Sinfonie, aber nur den allerersten Satz; es wurde nur ein Satz von ihm fertig komponiert und zuallerletzt spielen wir Korngold, aus seiner Oper die tote Stadt, was thematisch auch sehr gut passt.

AJ

Erich Wolfgang Korngold emigrierte in die Vereinigten Staaten. Dem dritten Komponisten wurde der deutsche Faschismus zum Verhängnis. Der Tscheche Erwin Schulhoff starb 1942 in einem deutschen Konzentrationslager. Von ihm wird das Orchester ein frühes Werk von 1914 einstudieren. Es trägt den Titel "Wer immer eine Achtelmeile ohne Mitgefühl wandert", wobei Alexander Joel Schulhoffs Schaffen nicht so charakterisiert, als sei dieses Schaffen ergiebige Quelle für Musik zu Gedenktagen wie den 9. November.

Durchaus, viele seiner Kompositionen haben Jazz-Elemente. Damit hat er sich intensiv befasst, auch mit verschiedenen Tänzen und dann hat er das kombiniert in seinem Stil sozusagen.

AJ

Fachleute und Publikum mögen das Konzert nach dem 9. November musikalisch beurteilen. Jetzt, wo die Organisatoren um Aufmerksamkeit werben, müssen sie allerdings auch einer Frage gewachsen sein. Nämlich, ob in ihrem Vorhaben nicht das Motiv des Gedenkens und die Versuchung des "Events" bedenklich nah aneinander rücken. Martin Weller dazu

Wir haben natürlich auch daran gedacht, ob wir uns einen Vorwurf machen könnten. Wir sind aber zu dem Schluss gekommen, dass es falsch ist, so zu denken. Es ist ganz wichtig, dass kulturelle Vermittlung mit den Sprachmöglichkeiten einer Zeit vollzogen wird. Und der Event, ob es nun "public viewing" wenn es Fußball ist, was auch immer, ob es Konzert sind auf der Wiese mit großen Leinwänden; das alles sind Zeitphänomenen, die Vermittlungscharakter haben und ich finde es richtig, dass man mit diesen Dingen, die mediensprachlich verstanden werden, auch solche Dinge transportiert.

MW

Abmoderation

Zum Gedenken an die Reichspogromnacht vor 70 Jahren gibt am Sonntag den 9. November das Staatsorchester Braunschweig um 16 Uhr ein Benefizkonzert in der Eisenbahnunterführung der Helmstedter Straße. Markus Hiereth berichtete. Karten zu 10 Euro sind ab Montag nächster Woche im Vorverkauf. Wer mehr zur Finanzierung der neuen Synagoge der jüdischen Gemeinde beitragen kann und möchte, wird herzlich darum gebeten.